Did Streaming Kill the Radio Star?

Radio in Zeiten von Podcasts, Playlists und Musikportalen.

Eigentlich verbietet es sich, direkt zu Beginn die fette, mit Verklärungsnieten gespickte Nostalgiekeule rauszuholen und wild um sich zu schlagen, aber ist es bei einem Text über den alten Weltempfänger nicht geradezu obligatorisch ohne Reue im Früher zu schwelgen? Ist das Radio nicht einfach „von gestern“? Ein Anachronismus in durchtechnisierten Zeiten? Ein Nachhall aus den guten alten Tagen?

Samstag, 15:30 Uhr, Omas Garten, strahlende Sonne, Eis im Hörnchen und die Bundesliga-Konferenz aus dem alten Kofferradio. Sie erinnern sich? Auf jeder langen Autofahrt war der Rundfunk ein treuer Begleiter, der zwischen „Mach mal lauter, ich will mitsingen!“ und „Mach mal leiser, ich will schlafen!“ die Eltern konzentriert und die Kinder bei Laune hielt. Sonntags lagen wir dann mit dem Aufnahmegerät vor der Anlage auf dem Wohnzimmerboden, um die Charts zu hören und unsere neuentdeckten Lieblingslieder mitzuschneiden. Nicht selten wurden die Songs unterbrochen von Eilmeldungen zu einem Geisterfahrer auf der A3 oder gereizten Aufforderungen, doch bitte endlich das Kinderzimmer aufzuräumen, aber so oder so hat uns das Radio musikalisch sozialisiert.

Irgendwann wurden wir älter, hatten genug Geld, um CDs zu kaufen und außerdem lief plötzlich Musik mit Bildern im Fernsehen und dagegen stank das Radio dann doch gefühlt ziemlich ab. Einzig als verlässlicher Staumelder oder orgendlicher Badbegleiter blieb es unverzichtbar, bis Internet, Apps und Streamingdienste nebst Duschplaylist das Radio endgültig obsolet machten. So zumindest der subjektive Eindruck. Ist das Radio also tot bzw. – etwas weniger fatalistisch – fristet es wirklich ein Nischendasein in breitbandlosen Einöden und Wartezimmern?

70% der Deutschen hören regelmäßig Radio

Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Das Radioportal radio.net bzw. sein deutscher Ableger listet alleine 8.575 Sender im und aus dem Land der Dichter und Denker auf und laut einer aktuellen Studie der Arbeitsgemeinschaft Mediaanalyse darben diese nicht ungeliebt, ungehört und alleine als Sprungbrett der Moderatoren für „irgendwas mit Bild“ vor sich hin. Im Gegenteil: weit über 70% der Deutschen hören zumindest an Werktagen regelmäßig Radio. Ob auf dem Weg zum Job, im Büro oder zuhause bei der Hausarbeit: nach wie vor wird eingeschaltet. Da kann auch kein weichgespülter Konsenspop und kein noch so pseudowitziger Radiowerbespot (des Teufels Art von Humor) irgendetwas dran ändern. Zur ganzen Wahrheit gehört natürlich auch, dass Podcasts und Playlists auf dem aufsteigenden Ast sind und über kurz oder lang eine weitaus wichtigere Rolle einnehmen werden, aber Stand jetzt sind wir noch lange nicht soweit.

Letztendlich schlägt das Radio die Streamingportale auch ein wenig mit deren eigenen Waffen. So gut wie jeder Sender ist auch online zu hören und somit nicht mehr an einen klassischen Empfänger gebunden. Zieht man eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov zu Rate, merkt man, dass das Radio, ob nun online oder über UKW, nach wie vor ein integraler Bestandteil im Alltag des Durchschnittsdeutschen ist oder genauer gesagt das entscheidende Puzzlestück für einen gelungenen Morgen. 35% der Deutschen hören Radio zum Frühstück, 19% zum Aufwachen, 18% bei der Morgentoilette und ganze 46% während der Fahrt zu Arbeit. Die Gründe liegen auf der Hand: man wird über die neuesten Nachrichten informiert, bekommt das Wetter und die Verkehrsbehinderungen ans Bett, in die Dusche oder ins Auto geliefert und muss keine Sorge haben, dass Blastbeats, martialisches Geschrei oder Schimpfkanonaden einen schon vor dem ersten Kaffee aus dem Land der Träume reißen. Mit Autotune und kessen Sprüchen flutscht man einfach ein bisschen sanfter in den Tag.

So ist das Radio zwar vieles, tot aber sicher noch lange nicht. Zwar liegt heute wohl niemand mehr aufgeregt vorm Empfänger und wartet sehnsüchtig auf die eine Chance den persönlichen Nummer 1 Hit mitzuschneiden, dafür zerstört die Stauschau aber auch nicht den letzten Refrain. Das Radio bleibt wie ein alter Freund aus dem Heimatkaff. Beide Parteien haben sich weiterentwickelt und so innig wie früher wird die Beziehung wohl nie wieder, aber es ist schön ihn zu haben. Und wenn es nur dafür ist, den neuesten Tratsch und Klatsch zu hören.

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